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AutorenbildSonja Busch

Die Erinnerung an meine Kindheit. Zur Transformation von Trauma, Missbrauch und Gewalt

Einleitende Worte zur Ausstellungseröffnung von Laurent Ziegler »Die Erinnerung an meine Kindheit – Malerei, Zeichnung, Fotografie« in der Galerie Jünger in Wien am 16. September 2020.


Anlass, diesen Text fast vier Jahre später in meinen Blog zu veröffentlichen, ist die geplante Wiederauflage des gleichnamigen Buches von Laurent Ziegler auf deutsch und erstmalig auch auf englisch. Es geht um die Aufarbeitung von sexuellen Missbrauch und ritueller Gewalt, die Möglichkeit der Heilung und Transformation durch kreativen Ausdruck, Therapie und die Arbeit in erweiterten Bewusstseinszuständen. Es ist ein schwieriges, tabu besetztes Thema. Laurent schreibt:


»Die Erinnerung an meine Kindheit« ist eine Geschichte über Transformation und Heilung, mein ganz persönlicher Weg zum Herzen und zu einem liebens- wie lebenswerten Sein. Diese Publikation entsteht in Zusammenarbeit mit dem Gestalter Clemens Schedler und gibt Einblick in die Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen von Missbrauch, die ich von Kleinkindesalter an erfahren habe. Erst Jahrzehnte später, durch wachsende Anzeichen von Depression und Isolation, war es mir möglich, mich auf die schmerzvolle Bewusstmachung dieser Ereignisse einzulassen. Das Buch erzählt von den Geschehnissen mittels Malerei, Zeichnungen, Texten und Fotografien und gibt dem Unaussprechlichen einen Namen, eine Form.

Die Erstauflage hat viele Leser:innen erreicht. Vor allem Betroffene ziehen hieraus Kraft und neuen Mut. Das Buch wurde von allen Beteiligten pro Bono erstellt. Damit es neu gedruckt auf deutsch und englisch erscheinen kann, gibt es eine Crowdfunding Kampagne um die Druckkosten abdecken zu können. Ich hoffe sehr, dass ich mit der Veröffentlichung meines Textes dazu beitragen kann, die Wieder- und Neuauflage dieses wichtigen Buches zu fördern.


Wer spenden mag, findet alle Details auf der Crowdfunding Seite. Große wie kleine Beiträge sind herzlich willkommen.


Die Bilder im Text stammen aus der neugestalteten englischsprachigen Version des Buches und wurden mir dankenswerterweise vom Autor zur Verfügung gestellt.


 


Die Erinnerung an meine Kindheit gleicht einer Welt ohne gewollt oder empfangen zu sein, einer Welt in der ich existierte aber nicht gesehen wurde. Titelbild Laurent Ziegler

Fast alles ist Zuviel. Aufarbeitung und Transformation


Lieber Laurent,

 

wir kennen uns jetzt seit vielen Jahren, 15 um genau zu sein, und ich freue mich, dass es dich gibt, dass du hier geblieben bist auf dieser Welt. Das ist nicht selbstverständlich. Kinder, die in Pädophilenringen aufwachsen, schaffen das nicht alle. Manche Kinder sterben, manche landen mit dissoziativen Persönlichkeitsstörungen in den Psychiatrien dieser Welt, manche versuchen mit Suchtmitteln in eine schönere Welt zu entfliehen, manche sehen keinen anderen Lebensweg, als ihren Körper zu verkaufen oder selbst zu Macht in der Branche zu kommen und zum Täter zu werden, und manche wandern durch ein Leben, das sich leer und leblos, in großen Teilen sinnlos anfühlt und reduziert ist auf ein irgendwie Funktionieren in dieser Welt.

 

Laurent, als du mich gefragt hast, ob ich zu deiner Ausstellungseröffnung ein paar einleitende Worte sage, habe ich ja gesagt. Und dann habe ich zuhause gesessen mit dem Buch und mich gefragt, was soll ich sagen?

 

Ich kenne deinen Prozess, die Angst, den Schrecken, die Verzweiflung, den Horror, die Gefühle von Scham, Schuld, Wut und Trauer durch die du gewandert bist, ich habe sie immer wieder mit dir erlebt. Doch alles nochmals gemalt und geschrieben zu sehen in deinem Buch, hat mir die Sprache verschlagen. Das Entsetzen ist über mich hereingebrochen und hat mich starr werden lassen. Wie Worte finden für etwas, das unaussprechbar ist? Und das ist es, was dieses Buch und diese Arbeiten so besonders machen, es ist der Versuch eines wunderbaren Künstlers, diesem Entsetzen Worte zu entreißen, ihm Bilder zu geben und es damit fassbar und erfahrbar zu machen.

 

Ich habe kurz überlegt, ob ich mich hinter einem Fachvortrag verstecken soll, Definitionen von Trauma und ritueller Gewalt geben, Zahlen zu sexuellem Missbrauch, Kinderpornographie und Kinderhandel aufsagen soll. Ob ich erklären soll wie das funktioniert mit den Überlebensmechanismen der Verdrängung und Dissoziation, die dazu führen, dass Erinnerungen oft erst Jahre später ins Bewusstsein dringen.

 

Die Frage ist ja nicht, gibt es das oder kann es sein, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun? Dass es das gibt, ist bekannt. Zurzeit laufen in Deutschland die ersten Prozesse zum Bergisch-Gladbach-Komplex und wir hören von Ermittlern, denen schlecht wird und die es kaum ertragen können, das vorhandene Videomaterial zu sichten und zu sehen wie Kinder emotional, physisch und sexuell misshandelt und gequält werden.

 

Bücher, Filme, Forschungsarbeiten, Zeitungsartikel und Radiosendungen versuchen sich dem Thema anzunähern. Vielleicht kann unser Verstand die Worte, die wir hören und lesen, begreifen, doch wirklich erfassen, was es für ein Kind bedeutet in diesem Kontext groß zu werden, kann wahrscheinlich nur wer das erlebt hat und ähnliche Narben der Gewalt trägt. Die Frage lautet nicht, kann das wahr sein, sondern wie lebt ein Kind in dieser Welt und wie überlebt es sie? Und kann so ein Kind nicht nur überleben, sondern wirklich ins Leben kommen, in die Lebendigkeit hineinwachsen und diese spüren? Wie kann ein Mensch, der Nähe, Liebe und Intimität nicht kennengelernt, sondern nur in der pervertierten Form von Angst, Schuld und Scham erfahren hat, sich ein erfülltes Leben aufbauen?

 

Kinder, die anstelle von Liebe Gewalt erfahren, machen keinen Unterschied zwischen Täter und Opfer, sondern kommen zu dem Schluss: Sicherheit gibt es nicht in dieser Welt und wenn mir so etwas passiert, dann bin ich nicht liebenswert und trage die Schuld daran. Und mit der Schuld kommt die Scham. Und diese Scham ist es, die dazu führt, sich Rollen und Masken zuzulegen, angepasste Verhaltensweisen, sich zu verbiegen, dem Tabu des Schweigens zu gehorchen und alles, wirklich alles zu tun, damit niemand merkt, wer ich wirklich bin und wie es in mir drinnen aussieht – selbst wenn das die totale Isolation bedeutet.

 

Laurent bringt mit seinem Buch den größtmöglichen Mut auf, den es meiner Meinung nach gibt. Den, sich wirklich zu zeigen, nackt – ohne Maske, in Momenten von Angst, Schuld und Scham.

 

Das größte Geschenk, das wir als Menschen einander machen können, ist uns wirklich zu hören, zuzuhören mit offenem Herzen und ohne Beurteilung. Und das ist es, wozu wir Sie heute einladen. Still zu werden, zu spüren, wie es mir gerade geht und ob ich mein Herz ein bisschen weiter öffnen kann, um Laurent in diesem Moment zu begegnen, wo er den Vorhang zur Seite zieht und uns einlädt, seine Welt zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken und zu spüren. Denn das ist es, was seine Kunst ausmacht – sie zieht uns hinein mit allen Sinnen.

 

Wenn Sie merken, es wird »zu viel«, die Texte und Bilder sind kaum auszuhalten,  erlauben Sie sich das. Denn auch das ist ein Einlassen, ein Sich-Einlassen in das Lebensgefühl eines Menschen, der überlebt hat. Mit diesem Gefühl von ‚Ich kann nicht, es ist zuviel‘ geht ein Überlebender durch die Welt. Nur, dass es sich nicht wegdrängen lässt.



My mind saved me when I was little. Beispiele für sexuellen Missbrauch und rituelle Gewalt sowie Überlebensmechanismen in der Kindheit aus dem Buch von Laurent Ziegler

Fast alles ist zu viel – die Anforderungen, die durch die Gesellschaft an uns gestellt werden, sei es Schule oder Beruf, sei es zwischenmenschlicher Kontakt, Nähe, Beziehung. Menschen machen Angst. Wir möchten weglaufen, uns verstecken, verkriechen, unsichtbar werden, und dann schnell irgend etwas tun, bevor die Angst wieder kommt, die sich durch Schlaflosigkeit, Schmerzen und unerträgliche Spannungszustände zeigt, mit Emotionen, die kaum auszuhalten sind und die Luft zum Atmen nehmen. Sie äußern sich in Panikzuständen, Leere, Sinnlosigkeit, Depression und selbstverletzendem Verhalten. In diesem Zustand habe ich keinen Kompass mehr für diese Welt, die mir unbekannt ist. Eine Welt, in der gelacht und Freude empfunden wird, eine Welt, die ich sehe wie durch eine Fensterscheibe, aber in die ich nicht eintreten kann. Es ist dieses »zu viel«, das irgendwann alles zusammenbrechen lässt und zu absolutem Stillstand führt.

 

Der innere Prozess, der hier einsetzt, ist ein Grenzgang zwischen Leben und Tod.


Es gehört zu den zentralen Elementen im eigenen Selbsterfahrungsprozess den Unterschied zwischen zwei Bewusstseinszuständen begreiflich und erlebbar zu machen, indem ich der Frage wer oder was will hier wirklich sterben nachgehe. Es geht darum den  Zustand von »Ich halte den Schmerz, ich halte das zu viel nicht mehr aus und will sterben, ich will nicht mehr sein auf dieser Welt“ umzuwandeln in „ich will, dass dieses Gefühl stirbt, ich will, dass die Teile in mir, die immer wieder diesen Horror, diese körperlichen Spannungen und diese Gefühle von abgespalten sein, von tiefer Sinnlosigkeit re-inszenieren“ in Frieden gehen können, dass sozusagen nicht Ich, sondern ein Teil in mir stirbt.

 

Kein Mensch kann sich der Auseinandersetzung mit dem Tod entziehen, und wenn wir uns einlassen wie es Laurent in der Konfrontation und Bezwingung der eigenen Dämonen getan hat, beginnen wir wieder das Leben so intensiv zu spüren, dass es dem Gefühl einer Wiedergeburt gleich kommen kann.

 

Es gibt nichts wovor der Mensch mehr Angst hat als die Angst vor dem Tod, es ist diese Angst, die die meisten von uns unbewusst durchs Leben treibt und unglaubliche Kräfte freisetzt und es ist das Überwinden dieser Angst, welches es erlaubt Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und nicht angst-getrieben, sondern kreativ-gestaltend durchs Leben zu gehen und vom ständigen getriebenen ‚Tun‘ in ein friedvolles ‚Sein‘ zu kommen.

 

Laurents Bilder und Texte machen all das erfahrbar und zeigen die unfassbare Schönheit der menschlichen Seele auf, die unglaubliche Qualität, das Schöne und das Hässliche, das Böse und das Gute, Licht und Dunkel in uns zu vereinen. Als Menschen haben wir die Fähigkeit, durch unser Bewusstsein diese Dualität zu erfahren und als Einheit zu erleben. Carl Gustav Jung sagt dazu, wer zugleich seine Schatten und sein Licht wahrnimmt, sieht sich von zwei Seiten und kommt damit in seine Mitte.

 

Lieber Laurent, für mich legt dein Buch genau von dieser Fähigkeit das zu tun Zeugnis ab. Es ist dein Wille, dein in Anlehnung an Viktor Frankl »trotzdem ja zum Leben sagen«, der dir erlaubt hat, dich deinen inneren Dämonen zu stellen und von der Angst ins Vertrauen, von der Schuld ins Spüren und von der Scham in die Selbstermächtigung zu gehen und Mitgefühl in dein Herz zu lassen, nicht nur für dich selbst, sondern für alle Geschöpfe dieser Erde und damit auch für die Täter und Täterinnen. Und es ist dieser Zustand der Liebe, der die Verbindung zu sich selbst, zu anderen Menschen, zum größeren Ganzen und damit zum Mensch- und

Lebendig-Sein bringt.

 

Ich danke dir für dieses Geschenk und hoffe, dass es von der Welt als solches aufgenommen wird, dass es nicht nur ein Zeuge deiner unglaublichen inneren Leistung ist, sondern uns auch das Wunder des Lebens zeigt. Das Wunder, das möglich ist, wenn wir Menschen bereit sind, uns auf unsere inneren Prozesse einzulassen, und ich möchte uns alle einladen, diesen Moment zu nutzen genau das zu tun, uns dem hinzugeben, was in uns und zwischen uns passiert, und damit das Leben und diese wunderbar verrückte Welt mit ihren Licht- und Schattenseiten zu feiern.


Der Weg geht nicht mehr in die Dunkelheit, sondern ins Licht.  Zur Transformation von Trauma im Buch von Laurent Zielger.



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